Dienstag, 31. Mai 2011

Neid ist grau mit gelben Punkten

Neid ist grau mit gelben Punkten

Wenn sie sehr ehrlich ist, muss Anita vor sich selbst zugeben, dass sie neidisch auf die jüngere Schwester ist, der alles so viel leichter fällt: das Lernen, das Gutsein, das Liebhaben und das Sichfreuen. Mareike sieht nett aus, sie hat herrlich-verrückte Einfälle, über die alle Erwachsenen sich amüsieren. Anita ist nicht so. Mühsam muss sie sich das Wissen und die Sympathie ihrer Umwelt erobern. Dabei wäre sie so gern einmal der fröhliche Mittelpunkt.


Nun zählt sie die Tage bis zu ihrem Geburtstag. Da wird sie Glückwünsche und Geschenke in Empfang nehmen, es werden Freundinnen kommen, Briefe wird sie auch erhalten, sie allein.

Aber kurz vor dem großen Tag sagt Mutter nachdenklich zu Anita:

„Eigentlich sollte Mareike an deinem Geburtstag nicht leer ausgehen. Ich hab’ eine Idee…“

Ah – zersprungen die Vorfreude, lautlos, wie eine schillernde Seifenblase! Natürlich, der alte Zopf: Man muss teilen, sonst blutet dem anderen das Herz… Hat Anita gedacht, sie käme einmal um Mutters Lieblingsspruch herum?

„Vielleicht einen netten Stoff?“ hört sie Mutter sagen. „Du suchst ihn aus, ja?“

„Wie du willst, Mutter.“

In ihrem Zimmer weint Anita ein bisschen. Wie – unehrlich! denkt sie wütend. Nur um Mareike verwöhnen zu können, ist Mutter jeder Vorwand recht…

Mürrisch begleitet sie am nächsten Tag die Mutter in den Laden. So viele Stoffe: farbige Karos, lustige Streifen, kleine Blumen, große Blüten. Da: ein Margueritenmuster auf himmelblauem Grund. Der ist wirklich hübsch.

„Na?“ fragt die Mutter und prüft die Qualität. Anita schweigt. Es ist, als hielte etwas Gutes, aber Kraftloses in ihrem Innern die Antwort noch zurück.

„Nein“, sagt sie schließlich. Ihr Blick irrt zu den Regalen. Dort liegt, stiefmütterlich versteckt auf einem letzten Stapel, ein mausgrauer Stoff mit kargen gelben Punkten – ein Nebeltag in einer düsteren Stadt mit sehr wenig Laternen.

„Den!“ sagt Anita entschieden und bemüht sich, nicht rot zu werden.

„Also schön“, sagt die Mutter ohne Begeisterung. Ist sie enttäuscht? Anita will es nicht wissen. Der Stoff wird abgeschnitten, bezahlt und heimgetragen.

Abends, unmittelbar vor dem Einschlafen, denkt Anita: Neid ist grau mit gelben Punkten. Das kommt ihr vor wie eine Zeile aus einem Gedicht. Wenn Mareike nicht just vor einigen Tagen noch gesagt hätte, so nebenher, wie Mareike etwas heraussprudeln kann, was ihr eben in den Sinn kommt: „Findest du nicht auch, dass Grau eine schlimme Farbe ist, Anita? Ich glaube, Kummer ist auch grau…“

Nun bekommt Mareike also ein graues Kleid. Immerfort muss Anita daran denken. Es überschattet alle Vorfreude.

Schließlich ist der Geburtstag da: Küsse, Blumen, Geschenke – eine feierliche Ansprache vom Vater vor dem Frühstück, dreizehn brennende Kerzen, das Lebenslicht in der Mitte. Doch, doch, man hat Anita lieb, das kann ein Blinder sehen…

Aber Anita sieht nur eins: ein grauer Stoff mit kargen gelben Punkten. Auf ihrem Geburtstagstisch. „Mutter!“ ruft sie entsetzt. „Das war doch der Stoff für Mareike…!“

Die Mutter lacht ahnungslos. „Nicht wahr, da habe ich dich überrascht? Man kennt sich als Mutter heutzutage wirklich nicht mehr im Geschmack der eigenen Kinder aus! Das habe ich an diesem Stoff doch wieder gesehen, auf den wäre ich niemals gekommen… Anita, du weinst?“

Anita schluchzt über das verhasste Geschenk, das sie einzig und allein ihrem schäbigen Neid zuzuschreiben hat. Hätte sie doch den himmelblauen gewählt, den mit den Margueriten…

„Es war aber doch ein Geschenk für Mareike! Damit sie an meinem Geburtstag nicht leer ausgeht, hast du gesagt!“

„Ich geh’ ja gar nicht leer aus“, ruft die jüngere Schwester vergnügt. „Schau doch, Anita! Mir hat Mutter auch vorgeschwindelt, der Stoff sei nicht für mich! Ich habe ihn für dich ausgesucht!“

Der Margueritenstoff – es ist der Margueritenstoff, den Mareike in ihren Händen hält.

„Er ist ja noch schöner als damals, Mutter! Und ich hatte ja keine Ahnung, dass er mein Katzentisch sein sollte… Anita! Hör auf zu weinen – willst du – willst du vielleicht lieber diesen haben? Komm, wir tauschen.“

Anita ist beschämt, als Mareike sie spielerisch in den blauen Stoff einwickelt, die Hände der kleinen Schwester liegen so lieb auf ihren Schultern. „Nett siehst du darin aus, Anita!“

„Aber – der andere Stoff ist grau, Mareike“, sagte sie unglücklich.

„Es sind ja gelbe Sonnenpunkte darin“, antwortet Mareike.

Es klingt kläglich und tapfer zugleich. Die Mutter sieht jetzt aus, als hätte sie in einen Abgrund geschaut.

Da gibt sich Anita einen Ruck, wickelt sich aus dem blauen Margueritenstoff wieder heraus, faltet ihn ordentlich wieder zusammen. „Danke, Mareike“, sagt sie. „Aber das kommt nicht in Frage. Mutter wird mir aus dem grauen Stoff sehr bald ein Kleid nähen. Nicht wahr, Mutter? Es soll mich manchmal an etwas erinnern.“

Jetzt sieht die Mutter aus, als hätte Anita aus eigener Kraft eine Brücke über den Abgrund gebaut. Anita selbst hat das Gefühl, als sei sie in diesen letzten fünf Minuten gewachsen, über den Rand ihres Neides hinweg und auf Mareike zu.

Dies wird ein guter Geburtstag.

Cili Wethekam

Michael Ende; Irmela Brender (Hrsg.): Bei uns zu Hause und Anderswo.
Stuttgart: K. Thienemanns Verlag 1976

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